Kapitel 3.1

Das pelagische Nahrungsnetz und die marinen Organismen

Um die unterschiedlichen und zum Teil komplizierten Folgen von El Niño auf die Tierwelt verstehen zu können, muss man als erstes die normalen Bedingungen kennen. So baut sich ein Nahrungsnetz, von dem alle Tiere abhängig sind, aus einzelnen Nahrungsketten auf. Die unterschiedlichen Ökosysteme sind im höchsten Maße von den gut funktionierenden Wechselbeziehungen in einem Nahrungsnetz abhängig.
Das pelagische Nahrungsnetz, welches sich vor Perus Westküste befindet, ist ein solches Nahrungsnetz. Als pelagisch bezeichnet man alle Tiere und Organismen, die sich im freien Gewässer schwimmend fortbewegen. In einem Nahrungsnetz sind die kleinsten Bestandteile von enormer Wichtigkeit. Denn durch ein Unterangebot dieser kann es zu Störungen im gesamten Netz kommen. Die grundlegenden Bestandteile eines Nahrungsnetzes bilden die mikroskopisch kleinen Planktonalgen. Jene sind vor allem Kieselalgen. Sie wandeln mit Hilfe von Sonnenlicht das sich im Wasser befindliche Kohlendioxid zu organischen Körpersubstanzen (Traubenzucker) und Sauerstoff um.
 
 

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17. Der kalte und nährstoffreiche Humboldtstrom steht an Südamerikas Westküste für Fischreichtum.

 

Diesen Prozeß nennt man Photosynthese. Da die Photosynthese jedoch nur in oberflächennähe optimal funktioniert, muss andauernd nährstoffreiches, kühles Wasser an die Oberfläche geschafft werden. Unter nährstoffreichem Wasser versteht man, dass im Wasser hauptsächlich die Nährstoffe Phosphat, Nitrat und Silikat, welche zum Bau der Skelette der Kieselalgen benötig werden, enthalten sind. Dies ist in Normaljahren auch kein Problem, da der Humboldtstrom, welcher an Perus Westküste verläuft, einer der nährstoffreichsten Meeresströme ist. So wird durch Winde und weitere Mechanismen (z.B. Kelvinwelle) der Auftrieb verursacht, der dann das Wasser nach oben transportiert.

Dieser Vorgang ist jedoch nur von Nutzen, wenn die Thermoklinie (Sprungschicht) so beschaffen ist, dass sie sich nicht unterhalb des Auftriebs befindet. Die Thermoklinie ist die Trennlinie zwischen warmem, nährstoffarmem und kaltem, nährstoffreichen Wasser. Wenn dies eintritt, wird durch den Auftrieb nur warmes und nährstoffarmes Wasser nach oben transportiert. Dies hat wiederum zur Folge, dass die Planktonalgen an der Wasseroberfläche wegen Nahrungsmangel absterben.

Diese Situation tritt in einem El Niño Jahr ein. Der Grund dafür sind die Kelvinwellen, welche die Sprungschicht unter die normalen 40-80 Meter versetzt. Das daraufhin einsetzende Algensterben hat spürbare Folgen für alle Tiere des Nahrungsnetzes. Selbst die großen und am Ende der Nahrungskette bzw. des Nahrungsnetzes stehenden Tiere müssen  Einschränkungen in ihrem Speiseplan hinnehmen.

Neben dem pflanzlichen Phytoplankton gibt es noch das Zooplankton im Nahrungsnetz, welches aus tierischen Lebewesen besteht. Beide Nährstoffe sind ungefähr gleichwichtig für die Fischarten, welche sich bevorzugt im kühlen Wasser des Humboldtstroms aufhalten. Zu ihnen zählt man, nach der Größe der Population geordnet, die Anchovy oder Sardelle - die eine Zeit lang bedeutendstes Fangobjekt des Weltfischerei war -, die Sardine und die Makrele in verschiedenen Arten (Holzmakrele, echte Makrele, Makrelenhecht).

Diese pelagischen Fischarten des Humboldtstroms, so die wissenschaftliche Bezeichnung, kann man noch in verschiedene Bereiche unterteilen. Als pelagische Fische werden Fischarten bezeichnet, welche sich in freien Gewässern, sprich im offenen Meer, aufhalten. So liebt die Sardelle die kälteren Regionen und im Gegensatz dazu bevorzugt die Sardine etwas wärmere Gegenden. Daraus ergibt sich in Normaljahren eine ausgeglichene Anzahl der Fische einer jeweiligen Art. Während eines El Niño- Jahres wird dieses Gleichgewicht, wegen der unterschiedlichen Temperaturgebundenheit der Fische, erheblich gestört. So nehmen die Sardinenschwärme deutlich überhand, da sie weitaus weniger empfindlich als die Sardellen auf wärmeres Wasser regieren.
 
 

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18. Ein peruanischer Fischer mit Hammerhaien. Diese exotischen Einwanderer sind in El Niño- Jahren kein seltenes Fangobjekt. 

 

Beide Fischarten sind gleichermaßen von der großen Warmwasserzunge vor Peru und Ecuador betroffen, welche von El Niño verursacht wird und deren überdurchschnittliche Erwärmung zwischen 5-10°C liegt. Sie reagieren darauf mit Abwanderungen in kältere und nährstoffreichere Regionen, um so der zu warmen  und nährstoffarmen Wasserschicht zu entfliehen. Es gibt jedoch Fischschwärme, die sich in den Restauftriebsgebieten, wo noch nährstoffreiches Wasser verhanden ist, befinden. Diese Gebiete muss man sich als kleine nährstoffreiche Inseln vorstellen, um die sich nur warmes, nährstoffarmes Wasser befindet. Indem sich die Sprungschicht in diesen Gebieten nach unten verschiebt, liefert der lebensnotwendige Auftrieb nur noch warmes und nährstoffarmes Wasser. Die Fische sind nun in einer tödlichen Falle eingeschlossen und müssen in dieser verenden. Dies kommt selten vor, da die meisten Fischschwärme bei der geringsten Wassererwärmung sehr schnell das Weite suchen.

Ein weiterer interessanter Aspekt ist, dass sich die pelagischen Fischschwärme während eines El Niños deutlich tiefer unter der Wasseroberfläche aufhalten als sonst. Normalerweise halten sie sich in Tiefen von 50 Metern auf. Durch die veränderten Nahrungsbedingungen sind die meisten Fische jedoch unter der 100 Meter Tiefenlinie anzutreffen. Die unnormalen Zustände lassen sich auch sehr deutlich an der Fischzusammensetzung im Meer beobachten. Während des El Niños 82/83 bestanden die Fänge der Fischer aus 50% Seehecht, 30% Sardinen und 20% Holzmakrelen. Diese Zusammensetzung ist äußerst ungewöhnlich, da normalerweise der Seehecht nur vereinzelt auftritt, und die kaltwasserliebende Sardelle dagegen in großen Mengen zu finden ist.

Die Tatsache, dass sich die Fischschwärme entweder in andere Regionen verzogen haben oder verendet sind, bekommt die regionale Fischindustrie am stärksten zu spüren. Die Fangquoten sind deutlich niedriger als gewöhnlich. Die Fischer müssen nun flexibel sein und entweder den Fischschwärmen so weit es geht folgen oder sich mit den exotischen Eindringlingen zufrieden geben. Zu ihnen zählt man z.B. Haie, Dorados, Adlerrochen usw. Diese tropische Fische halten sich bevorzugt im warmen Wasser auf. Durch diese Konsumfische konnten die Fischer manch mageren Fang wieder finanziell ausgleichen.

Die Fischer sind jedoch nicht die einzigen Leidtragenden, sondern auch die in der Nahrungskette höher stehenden Tiere, wie Wale, Delphine usw. sind betroffen. In erster Linie sind die fischfressenden Tiere von dem Fischrückgang betroffen, jedoch bekommen auch die planktonfressenden Bartenwale große Probleme. Denn durch das Planktonsterben müssen diese Meeressäuger aus Nahrungsmangel abwandern. So wurden in der Saison 82/83 nur 1742 Wale (Bryde-, Finn-, Blau-, Buckel-, und Pottwale) vor Nordperus Küste gesichtet. Im Gegensatz dazu wurden in der vorherigen, nicht von El Niño beeinflussten Saison 5038 Wale gezählt. Anhand dieser Statistik lässt sich deutlich erkennen, dass die Wale sehr empfindlich auf die veränderten Umstände regieren. Auch die leeren Walmägen sind ein Indiz für den akuten Nahrungsmangel der Tiere. In extremen Fällen enthielten diese bis zu 40,5 % weniger Nahrung als normal. Einige Wale, die sich nicht mehr rechtzeitig aus den nahrungsarmen Gebieten zurückziehen konnten, starben. Die meisten wanderten jedoch in nördlicher Richtung z.B. nach Britisch Kolumbien ab, wo dreimal so viel Finnwale wie sonst gesichtet wurden.
 
 

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19.2 Die riesigen Schalenhäufen in einem El Niño- Jahr sind die Überbleibsel des Pilgermuschelbooms.

19.1 Üppiger Anchovyfang in Normaljahren.

 

 

Neben diesen negativen Auswirkungen El Niños gibt es auch eine Reihe von positiven Entwicklungen, wie z.B. den Pilgermuschelboom. Das Überangebot von Pilgermuscheln trat besonders während dem El Niño 82/83 auf und brachte den finanziell geschädigten Fischern einen willkommenen Ausgleich. So waren zwischenzeitlich mehr als 600 Fischerboote im Einsatz. Die Fischer kamen von weit her, um wenigstens nicht ganz untätig das El Niño- Phänomen abzuwarten. Sie tauchten von ihren Fischerbooten aus auf den küstennahen Meeresboden und bedienten sich an den üppigen Pilgermuschelbeständen.
Der Grund für die überdurchschnittlich hohe Population der Pilgermuscheln ist, dass diese wärmeliebend sind und deswegen von den veränderten Wassertemperaturen profitieren können. Diese Wärmetoleranz - so wird vermutet - ist von ihren Vorfahren vererbt worden, welche in tropischen Gewässern lebten. Die Folge war, dass sich die Muscheln nicht wie gewöhnlich unter 20 Meter Meerestiefe aufhielten, sondern sich in bis zu 6 Meter tiefem Wasser in Küstennähe ausdehnten. Dies ermöglichte den Fischern, mit ihren einfachen Ausrüstungen, das Abfischen der Pilgermuscheln. Dieses Szenario spielte sich besonders in der Bucht von Paracas südlich von Pisco ab.

Das intensive Abfischen dieser wirbellosen Organismen ging einige Zeit gut. Erst Ende 1985 waren die Pilgermuscheln überfischt und es musste Anfang 1986 eine mehrmonatige Schonzeit eingeführt werden, um den Bestand nicht gänzlich auszurotten. Diese von staatlicher Seite erlassene Bestimmung wurde von vielen Fischern missachtet. Als Folge dieses Handelns brach der Bestand endgültig zusammen.
Die Explosion der Pilgermuschelnbestände während eines El Niños ist schon früher aufgetreten und kann anhand von Fossilien sogar bis zu 4000 Jahre zurückverfolgt werden. Demnach ist diese Erscheinung nichts Neues oder Außergewöhnliches.
 
 

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20. Die Pilgermuscheln werden direkt am Meer für den weitertransport fertig gemacht.

 

Neben den Pilgermuscheln sind die Korallen mit ihren Veränderungen im Bezug auf El Niño zu erwähnen. Die Korallen teilt man in zwei Gruppen ein. Die erste ist die der riffbildenden Korallen, welche sich bevorzugt im warmen, klaren Wasser der tropischen Meere aufhalten. Im Gegensatz dazu gibt es die Weichkorallen, welche sich in bis zu -2°C kaltem Wasser in der Antarktis oder Nordnorwegen wohlfühlen. Die riffbildenden Korallen sind besonders in der Gegend der Galapagos- Inseln stark vertreten. In noch größerer Population sind sie im Ostpazifik auf der Höhe von Mexiko und Kolumbien und in der Karibik anzutreffen.

Das Kuriose an den Korallen der riffbildenden Art ist, dass sie sich nicht wie andere wärmeliebenden Tieren in der wärmeren Umgebung wohler fühlen und so von El Niño profitieren. Die Korallen beginnen unter den lang anhaltenden extrem hohen Wassertemperaturen abzusterben. Dieses Massensterben geht an manchen Stellen sogar so weit, dass ganze Kolonien ausgerottet werden. Die Ursachen für dieses Verhalten sind noch kaum erforscht, nur das Ergebnis ist bekannt.

In besonderer Intensität spielte sich diese Szenario vor den Galapagos- Inseln ab. Hier begannen im Februar 1983 die Riffkorallen in Küstennähe stark auszubleichen. Bis Juni hatte es dann auch die Korallen in 30 Meter Tiefe erreicht und das Korallensterben war in vollem Gange. Es waren jedoch nicht alle Korallenarten davon betroffen. Am stärksten betroffen waren die Gattungen: Pocillopora, Pavona clavus und Porites lobatus. Diese Korallenarten starben bei dem El Niño 82/83 fast ganz aus. Nur vereinzelt überlebten kleinere Ansammlungen, die sich unter Felsüberhängen befanden. Die Weichkorallen vor den Galapagos- Inseln waren übrigens ebenso vom Aussterben bedroht. Als das damalige El Niño- Phänomen vorüber war und wieder normale Bedingungen herrschten, begannen sich die übrig gebliebenen Korallen wieder auszubreiten.

Dies gelang manchen Korallenarten nicht, da ihre natürlichen Feinde das El Niño- Ereignis weitaus besser überstanden hatten und sich nun an die Restbestände machten. Bei Pocillopora war dies der Seeigel, der diese Korallenart als bevorzugte Nahrung frißt. Durch solche und weitere  Hindernisse gestaltete sich die Wiederbesiedlung der Korallenkolonien auf das Niveau von vor 1982 als äußerst schwierig. Man vermutet, dass es noch einige Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunderte, dauern wird, um die vorherigen Strukturen wieder zu erreichen.

Ein ähnlich starkes, wenn auch nicht ganz so ausgeprägtes, Korallensterben fand in den tropischen Gebieten vor Kolumbien, Panama usw. statt. Forscher schätzen, dass im gesamten Ostpazifik  70-95% der lebenden Korallenbedeckung in einer Meerestiefe von 15-20 Metern beim El Niño 82/83 abgestorben sind. Wenn man die Regerationszeit der Korallenriffe bedenkt, dann sieht man, welche Langzeitschäden El Niño verursacht hat. Weitere Informationen über Korallen und Korallenriffe im Kapitel Korallen.

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